Das langfristige Ziel des Forschungsvorhabens besteht in der Erarbeitung einer psychologischen, empirisch gestützten, prozessorientierten, entwicklungssensitiven Theorie der Abschreibkompetenz, welche Antworten auf folgende Fragen erlaubt:
- Welche Komponenten des Arbeitsgedächtnisses sind an der Bearbeitung von Abschreibaufgaben in welcher Weise beteiligt?
- Mit welchen Strategien werden Abschreibaufgaben bewältigt? Welche Strategien werden bei der Selbstkontrolle des Abschreibresultats eingesetzt?
- Wie verändern sich die Beteiligung einzelner Arbeitsgedächtniskomponenten sowie der Strategieeinsatz beim Abschreiben vom Vorschulalter bis zum Ende der Grundschulzeit beziehungsweise darüber hinaus bis zum Alter bei Schulabschluss und Berufseintritt oder Studium?
- Wie lässt sich Abschreibkompetenz fördern?
- Welche Rolle spielt das Modul „Abschreibkompetenz“ für die Beschreibung von komplexeren Textproduktionskompetenzen?
Für das Projekt wurden folgende Festlegungen und Einschränkungen der Forschungsziele vorgenommen:
(a) Beschreibung der Abschreibkompetenz, der beteiligten Prozesskomponenten des Arbeitsgedächtnisses und der eingesetzten Strategien (einschließlich Kontrollstrategien) an zwei Entwicklungspunkten: 2. Grundschulklasse (ca. 7-8 Jahre), 4. Grundschulklasse (ca. 10-11 Jahre).
Direkt nach dem Schuleintritt unterliegen die Bereiche der Fähigkeiten im Umgang mit geschriebener Sprache den stärksten Veränderungen, insofern im Anfangsunterricht der Aufbau von Lese- und Schreibfähigkeiten einen Schwerpunkt darstellt. Beim Schreiben geht es zunächst vor allem auch um den Aufbau motorischer Prozesse zur graphischen Realisierung von Buchstaben und Buchstabensequenzen. Je nach der eingesetzten didaktischen Methode wird der phonologische oder der orthographische Zugang zur Verschriftlichung von Wörtern mehr oder weniger stark stimuliert; man darf jedoch unterstellen, dass alle derzeit angewandten Methoden zu einem erfolgreichen Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeiten führen (können). Da wir nicht an der Abhängigkeit der erworbenen Abschreibkompetenz von bestimmten didaktischen Verfahren des Anfangsunterrichts interessiert sind, sondern an psychologisch beschreibbaren Determinanten, werden Schülerinnen und Schüler der 2. Klassen untersucht, wenn sich die methodenabhängigen Variationen auf einem Anfangsniveau der Lese- und Schreibfähigkeit stabilisiert haben, sowie Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse mit den zum Ende der Grundschule erreichten Fähigkeiten.
Das Forschungsziel besteht also in der Beschreibung der typischen Abschreibkompetenz und ihrer Determinanten an verschiedenen Punkten von Alter und Schulstufe. Es geht nicht vorrangig um die Beschreibung individueller Entwicklungsverläufe; diese würden zum einen andere (nämlich mikrogenetische) Erhebungsmethoden erfordern, zum anderen zwangsläufig in die Repetition großer Teile der Leseentwicklungsforschung münden. Das Projekt soll aber vielmehr der Leselastigkeit der Erforschung früher Schriftsprachfähigkeiten durch die eingehende Analyse einer elementaren Schreibkompetenzkomponente entgegenwirken.
(b) Prüfung der bereits bestehenden theoretischen Erwartungen über Prozesse und Strategien des Abschreibens.
Stufen und Abfolgen des kindlichen Schriftspracherwerbs wurden in zahlreichen Modellen und Arbeiten beschrieben. Auch wenn diese nicht oder nicht vorrangig im Bezug zu Prozessen und Funktionen der elementaren kognitiven Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis verankert wurden, lassen sich doch Erwartungen über die differenzielle Beteiligung von Arbeitsgedächtniskomponenten an Prozessen und Strategien ableiten. Generell erwarten wir, dass (i) infolge zunehmender Automatisierung aller Teilprozesse, die nicht die Planung von Texten betreffen („Low-level-Prozesse“: graphomotorische Ausführung, Abruf und Schreibung von Wörtern, Formulierung), die Belastung der zentralen Kontrolle beim Abschreiben mit zunehmendem Alter sinkt. Zentral aufmerksamkeitsbelastende Zweitaufgaben sollten also bei jüngeren Kindern den Abschreibprozess praktisch zum Erliegen bringen, bei kompetenten Schreibern dagegen kaum noch stören. Die Immunisierung des Abschreibens gegen andere höhere kognitive Prozesse durch Automatisierung muss als wichtiges Ziel bereits der Grundschuljahre gelten, damit zum Beispiel Hausaufgabeninstruktionen sinnverstehend abgeschrieben werden können. Außerdem (ii) erwarten wir eine Verschiebung („component shift“) vom räumlich-visuellen Notizblock als Hauptsystem zur Aufrechterhaltung der abzuschreibenden Information auf graphischer Ebene (zunächst Buchstabengestalt, später Wortgestalt) zur phonologischen Schleife, welche als kurzfristiges Memoriersystem sowohl in Phasen phonologischer Schreibung als auch in Phasen orthographischer Schreibfähigkeit leitend sein kann, jedoch mit verschiedenen Strategien und typischen Fehlern. Beispielsweise ergaben unsere Untersuchungen an Hauptschülern (Grabowski, Blabusch & Lorenz, 2007), dass deren schwache Abschreibleistung häufig damit zusammenhängt, dass sie eine orthographische Strategie einsetzen, aber zu orthographischem Rechtschreiben nicht fähig sind, weshalb eine Abschreibstrategie auf Buchstabenebene für ihr Fähigkeitsniveau angemessener wäre. (iii) Schließlich erwarten wir aufgrund der soeben genannten Überlegungen, dass die Abschreibkompetenz erst mit zuneh- mendem Alter von der Muttersprachkompetenz und der schon erreichten Lese- und Rechtschreibkompetenz abhängt. Solange die räumlich-visuelle Subkomponente des Arbeitsgedächtnisses die Abschreibstrategie leitet, sollten fehlende Sprachkenntnisse nicht oder weit weniger zum Tragen kommen. Daraus würde interessanterweise folgen, dass Kinder mit fehlenden oder eingeschränkten deutschen Sprachkompetenzen (Deutsch als Unterrichtssprache vorausgesetzt) von einer frühen Förderung der Abschreibkompetenz (im Sinne einer Anleitung zur Anwendung fähigkeitsangemessener Strategien) gut profitieren können, wenn nur ihre allgemeinen kognitiven Fähigkeiten (vor allem Arbeitsgedächtniskapazität) hinreichend ausgeprägt sind.
(c) Konzentration auf die handschriftliche Abschreibkompetenz.
Abschreiben als schulische Arbeitstechnik erfolgt handschriftlich. Die mehr oder weniger fortgeschrittene Automatisierung der graphomotorischen Teilprozesse stellt im frühen Schriftspracherwerb eine wichtige Belastung zentraler und peripherer Arbeitsgedächtniskomponenten dar. Alternative didaktische Strategien zur Unterstützung früher Schreib- und Lesefähigkeiten – wie Drucken in der Freinet-Pädagogik oder das Abschreiten von Buchstabenformen – zielen interessanterweise immer auf die visuell-räumliche Komponente von Texten und ihren Elementen. Auch wenn wir andernorts grundsätzlich zur Diskussion stellen, ob nicht andere Medien (zum Beispiel Tastatureingaben) für schulische Schreibprozesse und berufliche Anschlusskompetenzen geeigneter wären, wird im vorliegenden Zusammenhang der kulturellen Praxis der handschriftlichen Dominanz Rechnung getragen.
(d) Bestimmung der Abhängigkeit der Abschreibkompetenz von individuellen psychischen Fähigkeiten.
Als relevante potenzielle Determinanten der beobachtbaren Abschreibstrategien und der involvierten Prozesse müssen geeignete Maße erhoben werden, welche vor allem die individuellen Kapazitäten der Arbeitsgedächtniskomponenten abbilden. Hierzu liefert die neuere Entwicklungspsychologie erprobte Verfahren. So kann die interindividuell variierende Intelligenz (die zwar viele Leistungen gut vorherzusagen, aber mit Blick auf die vermittelnden Prozesse schlecht zu erklären vermag) durch die Kombination von Kapazität und Verarbeitungsgeschwindigkeit des Arbeitsgedächtnisses sehr gut approximiert werden. Kindgerechte Testverfahren für Verarbeitungsgeschwindigkeit, Gedächtnisspannen im räumlich-visuellen und phonologischen Bereich sowie komplexe Aufmerksamkeitszuweisungstests wurden bereits entwickelt.