Das Leben ist eine Baustelle
Im Anfang war das Loch. Schon vor meinem ersten offiziellen Arbeitstag im vergangenen Wintersemester fand ich es. Hinten rechts oben in meinem Büro, groß, geformt wie der Umriss von Malta (ohne Gozo), sich konisch ins Unendliche und Dunkle verjüngend. Zunächst dachte ich, es sei ein Wasserschaden. Aber es ist ein gutes Loch! Es wird mir in unbestimmter Zukunft einen Netzanschluss bringen (hoffe ich). Wochenlang blieb es nichts als ein Loch. Die größeren herabgefallenen Mauerpartikel wurden weggeräumt. Der feinere Mauersand bedeckt den Schreibtisch und alles, was darauf liegt. Klarsichthüllen, die bewegt werden, unterliegen nicht mehr der Reibungskraft, sondern gleiten auf Sandkörnchen (und knirschen dabei sanft). Mein Schreibtisch als späte Verbesserung des ägyptischen Transportprinzips (dort Rollen, hier Kugeln – und leiser!). Bald merkte ich, dass das Unendliche und Dunkle in Wirklichkeit der darüber liegende Hörsaal ist. Ich höre kräftige Dozentenstimmen, Filmvorführungen, fröhliche Studierende, Beifall. Ganztags. Immer gerade laut genug, dass es stört, aber zu leise, um etwas zu verstehen. Den Versuch, mit Händels Concerti Grossi (Opus 6) im CD-ROM-Laufwerk gegenzusteuern, zu übertönen, auf mich aufmerksam zu machen, habe ich schnell aufgegeben. Offenbar ist es ein schallbezogen unidirektionales Loch (Konus!). Manchmal, am späten Nachmittag, kommen Christen. (Glaube ich zumindest; vielleicht sind es auch Grundschulpädagogen.) Sie singen herzlich einfache Lieder. Manchmal trommeln sie dazu. Sie brauchen lange, um einen Trommelrhythmus einzuüben. Manchmal eineinhalb Stunden. Für ein Lied. Plötzlich war dann eine Plastikplane über dem Schreibtisch. Und ein Handwerker war da. Und dann ein weißer Kabelkanal. Dann war der Kabelkanal wieder weg. Dann kam ein silberfarbener Kabelkanal. Der ist jetzt noch da. Seit letzter Woche sind sogar zwei Kabel darin. Am Ende müssen es sechs Kabel sein, sagte man mir. Einmal, als zwei Stockwerke über mir gebohrt wurde, regnete es hagelkorngroße Mauerstücke in die Tastatur. Daraufhin wurde das Loch zugestopft. Mit der BILD-Zeitung. Ab Schreibtischhöhe verlassen Sie nun den akademischen Sektor. Irgendwann wurde die Plastikplane vergessen. Ich habe sie (unbefugt?) in die Ecke geräumt. Ich glaube, ich möchte das Loch gern behalten. Schließlich ist es ein gutes Loch.